Es war einmal ein kleines glückliches Dorf, wie man es so überall auf der Welt findet. In dem lebten mehr oder weniger glückliche Menschen, wie das so überall auf der Welt ist. Sie aßen und tranken, gingen ihrer Arbeit nach und trafen sich, wie man das so macht. Aber wie das nun eben auch so ist, bleibt das Glück nicht für immer. Und so war das auch mit diesem Dorf.
Eines Tages kam ein Bote des Königs ins Dorf stellte sich auf den Marktplatz und rief: Stellt euch vor! Am Rande des schwarzen Waldes in der großen dunklen Höhle haust ein Zauberwesen. Dieses Wesen verwandelt sich in euren Vater, eure Mutter, euren Bruder, eure Schwester oder irgendeinen anderen von euren Lieben. Wenn er dann in dieser Gestalt vor euch steht und euch umarmt oder gar küsst, dann verliert ihr eure Seele und müsst sterben.
Was heißt das für uns? fragten die Leute. Sie sahen sich gegenseitig in die entsetzten Gesichter und plötzlich war es allen klar! Glasklar!
Panisch stoben sie auseinander, rannten in ihre Häuser, verrammelten die Türen und sperrten sich ein. Von jetzt an hieß es wachsam zu sein, denn sterben wollte man nicht! Doch auch innerhalb der Familien wuchs die Angst. Man wusste nicht mehr, wen man vor sich hatte. Jeder konnte plötzlich das Zauberwesen sein, man konnte nie wissen. Und sterben wollte man nicht!
Nun kehrte die Angst in das einst glückliche Dorf ein. Man schloss sich ein, lebte von den kärglichen Vorräten und wenn mal ein Nachbar an die Tür klopfte und um etwas Mehl bat, weil seine Vorräte zu Ende waren, dann schrie man hinter der Türe nur: Geh weg und sieh zu wie du dir selbst hilfst, wir müssen selber sehen, wie wir das schaffen. Wir wissen nicht, wer da vor unserer Türe steht und wir wollen nicht sterben!
Die Kinder mussten ohne Gute-Nacht-Geschichte und ohne Kuscheln ins Bett gehen, die Eheleute schliefen in weitem Abstand zueinander, die alten Menschen warteten in ihren dunklen Kammern auf ihr Essen und ein gutes Wort. So hielt die Einsamkeit Einzug in das Dorf. Die Menschen wurden grau und krank. Die ersten starben an Hunger und Einsamkeit.
Weil Vorräte nicht ewig halten, schickte der König Soldaten, die in eisernen Rüstungen die Menschen auf die Felder trieben und sie mit Waffengewalt zwangen, die Felder zu bestellen. Doch was ist das für eine Arbeit, wenn man alleine, mit einem Schwert im Rücken, alles schaffen muss, ohne dass der gute Nachbar helfen kann. Denn natürlich hielt man genügend Abstand zu den anderen.
Schlimmer noch war das Heimkommen am Abend, denn keiner wollte die Türen öffnen. Wusste man, wer davor stand? War es wirklich der Vater oder vielleicht doch das Zauberwesen? Das tödliche Misstrauen verschloss die Herzen, die Türen und den Verstand. Es wurde kalt in den Zimmern, man umarmte sich nicht mehr. Die Menschen zitterten vor Kälte und wurden krank und grau.
Doch wie das so im Leben ist: Wenn die Nacht am dunkelsten ist, kommt der Morgen! Und so war das auch in unserem Dorf!
Eines Tages ging ein junger Mann auf seinem Weg zum Acker an einem Fenster vorbei, hinter dem ein junges Mädchen saß und traurig vor sich hinstarrte. Der junge Mann blickte in die tieftraurigen, großen Augen und es kam, wie es kommen musste: Er verliebte sich unsterblich in dieses traurige Wesen.
Er fasste sich ein Herz, blieb stehen und winkte dem jungen Mädchen strahlend zu. Erst war es verwundert, dann verzog sich sein Gesicht und es lächelte zurück! Der junge Mann rief ihm zu, er wolle mit ihm sprechen, es solle doch das Fenster öffnen. Doch das junge Mädchen traute sich nicht. So winkten sie sich Tag für Tag zu und dann kam der Augenblick in dem das junge Mädchen das Fenster öffnete. Sie sprachen miteinander und wie das nun mal so ist, verliebten sie sich ineinander.
Sie trafen sich täglich erst heimlich, denn es war mittlerweile unter Strafe verboten sich im Dorf zu treffen, dann immer öffentlicher und schließlich offenbarten sie sich mit ihren überquellenden Herzen ihren Familien.
Seid ihr verrückt? Wie könnt ihr es wagen? Wie könnt ihr so herzlos sein und uns und euch in solche Gefahr bringen? Wenn das Zauberwesen vor euch steht, dann verliert ihr eure Seelen und sterbt! riefen diese in ihrer Angst.
Doch die Liebe kennt keine Angst und so stellte sich der junge Mann mutig vor die Menge und rief: Ihr schließt euch ein und habt trotzdem eure Seelen schon verloren! Aber keine Sorge, wir werden das Dorf verlassen, damit wir euch nicht in Gefahr bringen, aber meine Liebe lasse ich mir nicht verbieten, die gebe ich niemals auf!
So zogen der junge Mann und das junge Mädchen in eine kleine Hütte am Rande des Dorfes und lebten dort glücklich und frei unter den wachsamen Augen der Dorfbewohner, die jeden Tag darauf warteten, dass die Unfolgsamen der Tod ereilen würde. Im Dorf aber starben Menschen an Hunger und Einsamkeit und Kälte.
Die Liebe jedoch lässt sich nicht einsperren noch aufhalten und am Beispiel der beiden wuchsen neue Bande der Liebe im Dorf. Ein zweiter Bauer verliebte sich, dann ein weiterer und man traf sich immer öfter, bis man dazu gezwungen wurde, das Dorf zu verlassen und sich am Dorfrand in einer Hütte niederzulassen.
Entsetzt schrien die Leute den Verliebten zu: wartet nur, wartet nur, das Schicksal wird euch schon ereilen. So viel Leichtsinn wird mit dem Tod bestraft. Das Zauberwesen wird euch umarmen und ihr werdet sterben!
Ihr sterbt doch auch, erwiderten die Verliebten Menschen, doch wir sind wenigstens glücklich und frei!
Und dann geschah es: Der junge Mann starb!
Ha, riefen die Dorfbewohner, wir haben es euch gleich gesagt! Wer nicht hören will muss fühlen! Nun hat ihn das Zauberwesen umarmt und er ist gestorben! Was hattet ihr nun von eurer Freiheit und eurer Liebe? Jetzt ist er tot!
Ja, rief die junge Frau, er mag tot sein, aber dafür hat er gelebt. Wir hatten ein Leben voller Glück und Liebe und ich bereue keinen Augenblick davon und die Freiheit, die er mir geschenkt hat, werde ich immer in meinem Herzen tragen! Aber was hattet ihr? Ihr habt überhaupt nicht mehr gelebt in eurer Angst gefangen, hinter euren Türen, in euren dunklen kalten Häusern! Die Wärme und den Sonnenschein, den wir hatten, den kann uns keiner nehmen!
Die Dorfbewohner wurden traurig. Sie konnten sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es einmal im Dorf gewesen war, in diesen glücklichen Zeiten, in denen sie frei waren zu tun was sie wollten. Es fühlte sich schon so lange an, seit sie einmal glücklich gewesen waren. Zu gerne wären sie wieder frei und glücklich! Doch sie wollten nicht sterben!
Was war zu tun?
Teil 2 folgt am 05.01.2023