Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter hat ein Buch über Julian Assange und dessen unbarmherzige Verfolgung geschrieben. Ich habe es gelesen und es bestätigt, was ich seit 2014 denke. Hier veröffentliche ich den Epilog, in dem Nils Melzer seine Schlussfolgerungen darlegt. Sie sollten uns alle wach rütteln:
Wie ich mit diesem Buch gezeigt habe, ist der Fall Assange in erster Linie die Geschichte einer Verfolgung -der Verfolgung eines unbequemen Dissidenten, der die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht der Öffentlichkeit gezogen hat. Durch die Offenlegung dieser Verfolgung weist dieses Buch aber auch weit über den Einzelfall von Assange hinaus und legt den Blick frei auf ein viel breiteres Systemversagen. Es geht um das Versagen von rechtsstaatlich-demokratischen Institutionen, deren Funktionstüchtigkeit und Vertrauenswürdigkeit vom Durchschnittsbürger in der Regel nie infrage gestellt werden.
Damit stellen sich uns aber auch Fragen über Lüge und Wahrheit, über Selbsttäuschung, Bequemlichkeit und passive Mitverantwortung. Dieses Buch beginnt ja nicht zufällig mit meinen eigenen Schwierigkeiten, meine persönlichen Vorurteile zu erkennen und zu überwinden. Über den Fall Assange hinaus ist dies somit ein Buch, das jeden Einzelnen etwas angeht, das jeden von uns mit den blinden Flecken der eigenen Realitätswahrnehmung konfrontiert und uns dazu auffordert, in aller Ehrlichkeit in den Spiegel zu schauen und sowohl persönliche als auch politische Verantwortung zu übernehmen. Die Menschheit ist heute mit Herausforderungen konfrontiert, welche unser kollektives Überleben innerhalb weniger Jahrzehnte ernsthaft gefährden werden und die mit Leugnung, Selbsttäuschung und Beschönigung nicht zu überwinden oder aus der Welt zu schaffen sind. Selbsterkenntnis, Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein sind daher längst nicht mehr einfach eine Frage der persönlichen Moral, des Glaubens oder des Lebensstils, sondern des nackten Überlebens unserer Spezies.
Bei meiner Untersuchung des Falles Assange hatte ich immer wieder den Eindruck, als erlebte ich eine moderne Inszenierung des Märchens von »Des Kaisers neue Kleider«. Man kennt die Geschichte: Dem Kaiser werden von Betrügern neue Kleider aufgeschwatzt, welche angeblich nur von »Dummen« und »Unfähigen« nicht gesehen werden können. In Wirklichkeit sind die dem Kaiser teuer verkauften Kleider natürlich nicht nur unsichtbar, sondern existieren gar nicht. Doch da weder der Kaiser noch seine Untergebenen als dumm oder unfähig gelten wollen, tun sie alle so, als ob sie die neuen Kleider sehen könnten, und bei einer öffentlichen Parade applaudiert sogar das ganze Volk der neuen Kleiderpracht des Herrschers. Bis plötzlich ein aufmerksames Kind den ganzen Spuk zum Platzen bringt, indem es dazwischen ruft: »Aber schaut doch hin, der Kaiser ist ja nackt! «
So ist es auch im Fall Assange. Obwohl die Missbräuche der involvierten Behörden in den letzten zehn Jahren immer offensichtlicher geworden sind, wurde dies sowohl von den führenden Medien als auch von anderen Regierungen und der breiten Öffentlichkeit bisher fast vollständig ausgeblendet. Stattdessen wurde stets gehorsam das offizielle Narrativ wiederholt von Assange, dem Vergewaltiger, Hacker, Spion und Narzissten, an dessen Händen das Blut Unschuldiger klebt und der endlich seiner gerechten Strafe zugeführt werden muss. Auch hier muss irgendwann jemand kommen, der unbefangen hinsieht und dem ganzen Spuk ein Ende macht, indem er sagt: »Aber schaut doch hin, der Kaiser ist ja nackt!« Das, liebe Leserin, lieber Leser, ist das Ziel dieses Buches.
Wir dürfen nicht zulassen, dass der Fall Assange immer nur aus der verkehrten Perspektive erzählt wird und sich die Wahrheit in einem diffusen Nebel von Vorurteilen, Lügen und Selbsttäuschungen verliert. Wir müssen immer wieder zum Anfang zurückkehren und darauf bestehen, dass der Lichtkegel dorthin gerichtet wird, wo unsere Aufmerksamkeit hingehört: auf Assanges Verfolger. Denn am Anfang dieser Geschichte steht nicht Assange. Am Anfang stehen die Verbrechen der Mächtigen. Darum geht es im Fall Assange. Die Mächtigen - ob Regierungen, Unternehmen oder Organisationen - sind es, die unsere rechtsstaatlichen Institutionen aushebeln; die sich weigern, Folter, Kriegsverbrechen und Korruption zu verfolgen; die unsere Rechtsordnungen und Wertegemeinschaften verraten, um ihren Eigeninteressen zu dienen. Sie statuieren an jedem ein abschreckendes Exempel, der die Öffentlichkeit über die tatsächlichen Ausmaße dieser Missbräuche informiert. Mit der Verfolgung von Assange soll ein Präzedenzfall etabliert werden, der es den Mächtigen künftig nicht nur erlaubt, ihre Verbrechen geheim zu halten, sondern der die Enthüllung solcher Verbrechen sogar strafbar macht. Wir alle dürfen uns keine Illusionen machen: Wenn sich dies erst einmal durchgesetzt hat, ist der Schritt vom Rechtsstaat in die Tyrannei im Grundsatz bereits vollzogen.
Hätten die betroffenen Regierungen im Fall Julian Assange im guten Glauben gehandelt, dann hätten sie die von WikiLeaks enthüllten Verbrechen nach Recht und Gesetz verfolgt. Wir sprechen immerhin von Angriffskriegen, Folter, Mord und Korruption. Dass es dennoch in keinem einzigen Fall zu einem Strafverfahren gekommen ist, dass auch kein einziger Politiker für Amtsmissbrauch, absichtliche Täuschung oder Korruption zur Verantwortung gezogen wurde, spottet jeder rechtsstaatlichen und moralischen Legitimation und sollte uns einen kalten Schrecken einjagen. Wie bereits zu Beginn dieses Buches angedeutet: Das Problem ist nicht, dass wir Menschen die Wahrheit nicht kennen, sondern dass wir sie nicht kennen wollen. Das Problem ist, dass wir den Mächtigen wider besseres Wissen erlauben, Recht und Gerechtigkeit zu missachten, und dass wir sie dafür weder rechtlich noch politisch zur Verantwortung ziehen, sondern sie als große Staatsmänner verehren und womöglich gar mit Friedensnobelpreisen ehren. Das Problem ist, dass wir Konzernbossen die rücksichtslose Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und die schamlose Ausbeutung der großen Mehrheit der Weltbevölkerung erlauben und sie als Wohltäter und Philanthropen verehren, wenn sie aus ihrem geraubten Wohlstand einige Milliarden für die Abmilderung von humanitären Katastrophen spenden, welche sie mitverursachen. Wir wollen nicht sehen, dass die Medienkonzerne, von welchen wir unser vermeintliches Verständnis der Weltpolitik und unserer Lebensumstände beziehen, denselben Menschen gehören, die auch die Wahlkampagnen und Karrieren unserer Politiker finanzieren, welche dann wiederum diejenigen Gesetze erlassen und jene Milliardeninvestitionen tätigen, die es stets denselben Kreisen erlauben, sich auf Kosten der Allgemeinheit immer weiter zu bereichern.
All dies wird uns im Namen des Rechtsstaates, der Demokratie, der nationalen Sicherheit und der freien Marktwirtschaft verkauft. Und wer das offizielle Narrativ nicht glaubt, der wird den »Dummen« oder »Unfähigen« zugeordnet, ganz so wie schon in unserem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Und da auch wir alle nicht zu den »Dummen« oder »Unfähigen« gehören wollen, wagen wir es in der Regel nicht, den Unsinn, mit dem man uns abspeisen will, zu hinterfragen und mit dem Finger darauf zu zeigen. Die meisten von uns werden durch den AIItagsstress auch derart auf Trab gehalten, dass wir es uns gar nicht leisten können, systemische Grundsatzfragen zu stellen und eine öffentliche Debatte dazu zu erzwingen. Und so werden sowohl die Märchengeschichten der Mächtigen als auch die Verschwörungstheorien der Skeptiker immer absurder, bis niemand mehr weiß, was eigentlich die Wirklichkeit ist - wir sind im Zeitalter des »Postfaktischen« angekommen.
Nach mehr als zwanzig Jahren Erfahrung im internationalen System bin ich heute weder Idealist noch Verschwörungstheoretiker - ich weiß für beides zuviel. Ich kenne die politischen Mühlen der UNO genauso wie die vermeintlichen Sachzwänge der nationalen Wirtschafts-, Außen-und Sicherheitspolitik; kenne Gesetz, Staatsverträge und Rechtsprechung ebenso wie die Welt diplomatischer Verhandlungen und die brutale Wirklichkeit in Kriegs-und Krisengebieten. Tatsächlich nehmen weltweit die Bemühungen von Regierungen zu, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von Kriegsverbrechen, Missbräuchen und Korruption abzulenken. Immer stärker vergiften Geheimhaltung, Straflosigkeit und Willkür unsere rechtsstaatlichen Institutionen und berauben sie ihrer Integrität. Interventionen mandatierter UNO-Mechanismen werden immer häufiger ignoriert oder gar als Einmischung in innere Angelegenheiten verurteilt. Pressefreiheit, Transparenz und Verantwortlichkeit - unerlässliche Voraussetzungen für die demokratische Überwachung jeder Staatsgewalt - sind heute bedrohter denn je.
Wenn die Wahrheit nicht mehr aufgearbeitet werden kann, weil grassierende Geheimhaltung und Zensur an der Tagesordnung sind; wenn Kriegsverbrecher und Ausbeuter keine Konsequenzen mehr zu befürchten haben und ihren Taten nicht nachgegangen wird; wenn Untersuchungsberichte zu staatlich sanktionierter Folter als geheim klassifiziert werden; wenn Dokumente, welche von Behörden unter Informationsfreiheitsgesetzen herausgegeben werden, fast nur noch aus geschwärzten Zeilen bestehen; wenn die etablierte Presse ihre Rolle als »vierte Macht« im Staat nicht mehr ausübt, sondern sich selbst zensiert dann wissen wir tatsächlich nicht mehr, was unsere Regierungen mit der Macht und den Steuergeldern tun, die wir ihnen anvertraut haben. Und dann brauchen wir undichte Stellen im System, Risse, durch die das Licht dringt, die Leaks, die uns mit Wissen versorgen.
Denn sobald Regierungen ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen bedroht sehen, nehmen sie es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr so genau. Nicht weil wir allesamt in autoritären Schurkenstaaten leben würden oder weil sich die Mächtigen böswillig gegen uns verschworen hätten. Sondern weil sich Menschen immer schon so verhalten haben. Wenn die soziale Kontrolle fehlt, tendiert der Mensch zu kurzsichtigem Eigennutz, und die langfristige Sozialschädlichkeit des eigenen Verhaltens wird ausgeblendet. Das Problem sind nicht die Mächtigen, sondern ist unser System, das ihnen ungezügelte Macht verleiht und ihre Missbräuche durch Geheimhaltung und Straflosigkeit schützt. Mit einem solchen System werden wir die gewaltigen Probleme, vor denen wir als Weltgemeinschaft stehen, nicht lösen können. Ob im Klimaschutz, in der Wirtschaftspolitik oder bei den Menschenrechten: Wir brauchen ein System, das transparent, gerecht und nachhaltig ist. Dafür müssen wir die Augen öffnen und erkennen, wer wir sind und wie wir funktionieren. Nur dann können wir auch die politische Verantwortung übernehmen und die notwendigen systemischen Anpassungen vornehmen, können Machtstrukturen offenlegen und Entscheidungsträger zur Verantwortung ziehen.
Auch im dunkelsten Raum genügt das Licht einer einzelnen Kerze, um alles für alle sichtbar zu machen. Julian Assange hat mit seiner Arbeit eine solche Kerze angezündet. Er hat Dinge sichtbar gemacht, die man unseren Blicken entzogen hatte. Es war nur ein kurzer Blick hinter den Vorhang, doch manchmal genügt ein Blick, um eine ganze WeItsicht zu verändern. Wir wissen nun alle, dass dieser Vorhang besteht und dass sich dahinter haufenweise schmutzige Geheimnisse verbergen. Geheimnisse, von denen wir vielleicht lieber nichts wissen wollen, weil sie uns zum Aufwachen, Aufwachsen und Handeln zwingen. Geheimnisse aber auch, durch deren Kenntnis uns überhaupt erst die Mittel in die Hand gegeben werden, um diejenigen systemischen Reformen durchzuführen, welche uns vor der sicheren Selbstzerstörung bewahren werden. Genau wie Julian Assange kann jeder und jede von uns durch beherztes Handeln die Welt verändern. Um die Dunkelheit zum Verschwinden zu bringen, genügt es, dass wir unser eigenes Licht dort erscheinen lassen, wo wir gerade sind, und so, wie wir es gerade können. Alles, was wir dazu brauchen, ist Mut zur Ehrlichkeit mit uns selbst und mit der Welt.